10 Jahre Theater Carnivore®
10 Fragen an den Gründer der Wanderbühne Theater Carnivore® Florian Kaiser
1. Florian, wie kamen Sie auf die Idee, eine Wanderbühne zu gründen?
Wenn ich über Theater nachdenke, dann denke ich auch immer über die Zugänglichkeit nach – also über Barrierefreiheit oder Verführung. Soll heißen, ich denke an das Publikum oder an ein Publikum – also Menschen, die sich anschauen wollen sollen, was auf die Bühne kommt. Nun würde ich mir wünschen, behaupten zu können, ich kenne mein Publikum, aber erstaunlicherweise sind mir andere Menschen fremd. Ich suche also die Schnittmenge zwischen meinen Dämonen und Sehnsüchten – ich weiß, spätestens jetzt bin ich als Romantiker entlarvt – und den Dämonen und Sehnsüchten der Fremden, also jener anderen Menschen, von denen ich mir wünsche, dass sie in unser Theater gehen. Im Idealfall wären das alle Menschen. Als Nebenprodukt würde ich dann noch unermesslich reich. Zu Beginn habe ich mich auf Komödientheater spezialisiert. Die Komödie beruht ja auf einer Differenz zwischen der subjektiven, empfundenen Tragödie des Subjekts und dem Blick von außen, der ihm die Höhe einer Tragödie nicht zugestehen will und vor dem die subjektive Tragödie lächerlich wird. Ich frage mich immer, ob das Lachen in seiner Wurzel eine Aggression ist: das Zähnefletschen des Affen, das eine Grenzüberschreitung der Artgenossen sanktioniert. Die Grenzüberschreitung ist das Befremdliche.
Falls Sie sich fragen, ob das gerade die Antwort auf Ihre Frage ist, kann ich Ihnen nur zurufen: Geduld, wir sind eine Wanderbühne, keine Sprintbühne!
Mit dem Befremdlichen sind wir an der Wurzel des Theaters. In der griechischen Mythologie sind das Befremdliche, die Gefahr, zerrissen zu werden, und der Rausch dem Gott Dionysos zugeordnet. Es sind diese Qualitäten des Theaters, die auch das Theater in den Verantwortungsbereich dieses Gottes rücken. Und auch wenn es vielleicht fragwürdig ist, sich auf eine patriarchale Mythologie zu beziehen, deren Narrative zum Großteil aus Vergewaltigungsbeschönigungen bestehen, scheint mir hier eine große Wahrheit in Bezug auf das Theater zu liegen (und wenigstens ist hochzuhalten, dass auch das zugewiesene Geschlecht im dionysischen Kontext in der griechischen Mythologie dem Zerrissenwerden ausgesetzt ist, verkörpert von einem androgynen Gott).
Das Befremdliche und die Verführung, es zu integrieren, oder das Bedürfnis, seinen Schrecken zu kennen, sind die Wurzel des Theaters. Jeder Theaterraum aber bedeutet einen Rahmen, der mit Sehgewohnheit, Erlebnisgewohnheit überschrieben ist. Und meist einen Rahmen, in dem nichts mehr fremd, aber auch nichts mehr nah ist. So liegt es nahe, sich als Theater auf Wanderschaft zu begeben, auf die Gefahr hin, zerrissen zu werden und fremd zu sein und zu verführen.
Natürlich gibt es dann auch noch die soziokulturellen Vorzüge der Wanderbühne. Weniger CO₂‑Verbrauch, die Bewegung auf das Publikum zu, das Sichtbarmachen von Theater in einem theaterfremden Umfeld, Theater, das nicht nur Hochkultur ist, ein Theater, das der gesellschaftlichen Spaltung entgegenwirkt – die Vorzüge alle aufzuzählen, scheint schier endlos!
Genaugenommen gibt es eigentlich keinen Grund, keine Wanderbühne zu gründen.
Außer vielleicht finanziellen Überlegungen! Oder der Gedanke an all den Aufwand, die Fahrten, das Auf- und Abbauen, das Wetter, die technischen Schwierigkeiten, die Herausforderung, Spielorte zu finden, die Schwierigkeit, an immer neuen Orten ein Publikum zu gewinnen…
2. Wenn Sie an die letzten 10 Jahre und an all das, was Sie jetzt wissen denken, würden Sie es wieder tun?
…
Ja.
…
Entschuldigen Sie. War das jetzt zu knapp geantwortet?
1998 habe ich meinen ersten Normalvertrag-Bühne-Solo an einem Theater unterschrieben. Ich habe die rein schauspielerische Tätigkeit sehr genossen und auch meine Zeit als Ensemblemitglied. Das viele Spielen war wunderbar. Gleichzeitig hat sich in mir immer etwas gerieben. Gerieben an einer Sehnsucht, die in den abhängigen Beschäftigungsverhältnissen und dem Gastieren als Soloselbstständiger keine Befriedigung fand. Das ging so weit, dass ich irgendwann beschloss, nicht mehr zu spielen. Ich habe angefangen zu schreiben und bin Ulrike Hofmann-Paul sehr dankbar, dass sie meine Stücke verlegt hat und zur Uraufführung gebracht hat. Ich habe das aber nicht lange durchgehalten. Durch die finanzielle Entlastung, die es bedeutet, kein Theater zu spielen (ganz gleich, mit welcher anderen Tätigkeit verdient sich Geld leichter), hatte ich die Möglichkeit, einen historischen Feuerwehr-LKW zu kaufen. Da war der Gedanke „Wanderbühne“ noch grün und unreif. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich immer in romantische Narrative verfalle. Die Wanderbühne hat sich in mir gegründet. Natürlich habe ich Kalkulationen angestellt, einen Businessplan aufgestellt, den kühlen Kaufmann gespielt, aber mir war bewusst, dass es reine Spekulation war und meine seelische Deformation, das Bedürfnis nach Wanderbühne, realer ist als alle Kalkulation. Ich hatte mit hundert Zuschauerplätzen und einer Auslastung von 30 % kalkuliert und die Wanderbühne unter der Prämisse gedacht, dass ich alles allein machen kann. Also auch für Auf- und Abbauten auf niemanden angewiesen bin. Ich neige nicht zu überschwänglichem Optimismus. Natürlich haben wir mit der Wanderbühne trotzdem einiges einstecken müssen. Finanziell gesehen gibt es keinen Grund, Theater zu machen. Aber es ist etwas entstanden, was ich für schön halte (schon wieder Romantik, oder noch älter? Klassik?) und auch für gut und wahr. Und ich wünsche mir, dass dieses Theater für alle gut ist, die damit in Berührung kommen. Künstlerisch erfüllendes Theater war für mich erst im Freien Theater möglich (mag nicht jemand mal schreiben: „Für ein Freies Theater“?). Und als ganz besonders erfüllend empfinde ich die Arbeit für die Wanderbühne. Sie ist größer und schöner geworden, als ich je geglaubt habe. Mit der Folge, dass ich noch mehr ersehne. Und auch wenn sie mir mit zarten 53 Jahren noch die Tränen der Wut und der Verzweiflung in die Augen treiben kann, bei dem Versuch, wie Fitzcarraldo das Schiff über den Berg zu ziehen, mag sich meine Seele nichts Schöneres vorstellen (Romantikalarm!!!).
3. Was ist das Besondere am Theater Carnivore® und wo ist der Unterschied zwischen einem Tourneetheater und einem Wandertheater?
Ein Tourneetheater ist ein Theater, das von Gastspielort zu Gastspielort reist: Entweder handelt es sich bei den Orten um andere Theater, die Gastspiele zeigen, oder es handelt sich um Mehrzweckhallen oder Stadthallen, in denen die Tourneetheater für ein Gastspiel gebucht wurden. Im Gegensatz dazu reisen Wandertheater als ganzes Theater und machen einen Theaterunort zum Theater. Wir verwenden den Begriff „Wanderbühne“. Zum einen, weil wir in der ephemeren Architektur, mit der wir reisen, tatsächlich mobile Bühnen verwenden (zurzeit sind es drei unterschiedliche mobile Bühnen), zum anderen wegen des historischen Bezuges oder des archetypischen Bildes, das wir im Kopf haben: sei es das Vorspiel in Goethes Faust I: „Die Bretter sind, die Pfosten aufgeschlagen und jedermann erwartet sich ein Fest“, sei es der Thespiskarren des antiken Griechenlandes oder die vielfältigen Wanderbühnenmotive, die wir aus Filmen kennen (eine Liste der Wanderbühnenfilme nach Genre finden Sie hier auf unserer Homepage). Insofern kreieren wir eben doch einen Rahmen. Aber ein Rahmen, der, weil es eben so wenig Wanderbühnen gibt und hier die wenigsten eine kennen, eher ins Imaginäre verweist (Romantikalarm).
Übrigens sammeln wir Links zu Wanderbühnen auf unserer Homepage. Sie ist der einzige Ort, den ich kenne, an dem sich eine Übersicht über existierende Wanderbühnen findet.
Das Besondere an Theater Carnivore® ist also schon einmal, dass es eine von wenigen Wanderbühnen ist. Als Sprechtheater, das meist ein Gegenwartsdrama zur Aufführung bringt – oft zur Uraufführung – und dem die Idee der Dekonstruktion oder postdramatische Konzepte zu seelenfern sind (schon wieder Romantikalarm), sind wir unter den Freien Theatern eine Seltenheit.
Das liegt vielleicht auch ein wenig am bundesrepublikanischen Theatersystem. Aus meiner Sicht muss das Drama für das Freie Theater erst wieder zurückerobert werden. Das Freie Theater wurde jahrzehntelang als „experimentell“ oder „innovativ“ geframt, auch von Jurys, und vielleicht auch aus der vielleicht sogar falschen Antizipation der Theater, was Jurys als „förderwürdig“ beurteilen.
Die Wanderbühne fordert eine Ästhetik, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht. Das ist eine sehr fordernde Grundvoraussetzung, die wir als Qualität begreifen. Unser Körper ist unsere Effektmaschinerie.
Vor allem aber: Die Wanderbühne ist das freie Freie Theater. Die beiden Begriffe Wanderbühne und Freies Theater umarmen sich und küssen sich und wollen sich gar nicht mehr loslassen, wenn über Freiheit nachgedacht wird. Sie beide sind die Urform des professionellen Theaters im deutschsprachigen Raum und wahrscheinlich in der ganzen Welt. Wir, wir Wanderbühnen, wir Freie Theater sind der Zähmung des Theaters, der Domestizierung, entgangen, als einige Theater sesshaft wurden. Als Theater zu moralischen Anstalten werden sollten und zu Stadttheatern wurden. Wir sind das wilde Theater, das ungezähmte Theater.
4. Woran in den letzten 10 Jahren erinnern Sie sich besonders gerne?
Ich denke mit Dankbarkeit und einem großen Glücksgefühl an all die glückliche Fügung, die uns begegnet ist, wenn wir wieder einmal das Ende vor Augen hatten: Sei es jemand der uns liebevoll jahrelang eine Halle zum Proben und zum Lagern zur Verfügung gestellt hat, oder ein Weingut, dass unsere Fahrzeuge außerhalb des Spielbetriebs duldet.
Ich denke an die lieben Menschen, die das Theater tragen, viele ehrenamtlich aus Liebe zur Wanderbühne und ohne die dieser wunderschöne Wahnsinn nicht möglich wäre, die in der Finsternis mit dem Flammenschwert vor der Wanderbühne stehen, um sie zu verteidigen, die uns Mut geben und Hoffnung.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem leider zu früh verstorbenen Bernd Mand, der mir Mut gemacht hat Anträge zu stellen, wo ich mich selbst zensiert hatte.
Ich erinnere mich an die erste Förderzusage und die Aufregung. Aber auch an den ersten Applaus nach der Eröffnungspremiere 2015 auf dem Ziegenkäsehof Nußloch.
Eine große, wunderschöne Erinnerung ist das internationale Wanderbühnenfestival, das wir mit der Arbeitsgemeinschaft Spektakel organisieren durften. Der ganze Wilhelmsplatz in Heidelberg war voll mit deutschen, französischen und tschechischen Wanderbühnen! Es waren wunderbare zwei Wochen mit 45 intensiven Veranstaltungen.
5. Was war die bisher größte Herausforderung?
Die Wanderbühne! Was für ein Wahnsinn! Wie aufwändig! Wie unpraktisch! Immer die Fragen, was wo hineinpasst, wie lange es braucht, um es aufzubauen und ob es die Windlast hält, ob es nass werden darf…Das Geld! Das immer in die falsche Richtung fließen will, nämlich weg von der Wanderbühne!
6. Welcher Spielort war für Sie bisher der Schönste?
Wir stehen immer im Weg, egal an welchem Ort! Immer hat er eine andere Bestimmung als die Wanderbühne! Spielorte, die uns trotzdem als Gewinn sehen, sind schön! Spielorte, an denen wir für eine Zeit zu Hause sein dürfen, sind schön!
Wunderschön ist es bei Weingut Ihle, wo wir seit zehn Jahren spielen, auf der großen Wiese, wo wir auch proben dürfen. Wunderschön ist es auf dem Wilhelmsplatz, wo uns die IHKKG und der Stadtteilverein West unterstützen. Schön ist es auf der Burgbühne Dilsberg, die uns so herzlich aufnimmt, und wo ein grandioser Ort und ein grandioser Himmel über uns alle Schönheit der Wanderbühne zeigen. Auf Bioweingut Rummel, wo wir schon mehrere Tage standen und immer herzlich empfangen werden, die Domäne Bergstraße der Hessischen Staatsweingüter Eberbach, wo wir fast ein Jahrzehnt die Stahlklappbühne mit dem Schmalspurschlepper durch die Weinberge gezogen haben. Die Liste lässt sich sehr lange fortsetzen!
7. Wo würden Sie gerne einmal spielen?
Ich träume von einer großen Wiese mitten in der Landschaft! Einem Ort, an dem sich die Wanderbühne vor einer Unendlichkeit am Horizont abzeichnet. Einen Ort der Entrückung und der Stille, zu dem alle pilgern und an dem wir unser Theater feiern.
8. Haben Sie Vorbilder?
Ja.
Natürlich das Théâtre du Soleil, vielleicht auch Peter Brook und Jerzy Grotowski. Auch das Living Theatre habe ich sehr bewundert.
Ja und nein, denn wir haben eine ganz andere Sehnsucht. Nach meinem Eindruck arbeiten wir konfliktarmer (hoffentlich nicht -scheuer), mit einer großen Sehnsucht nach einem sicheren Rahmen, den wir uns gegenseitig zugestehen. Das widerspricht ein wenig der „mise en danger“ dem Sich-in-Gefahr-begeben. Oder: Wir geben uns in Gefahr, wissen aber, dass wir uns beistehen und vertrauen. Das habe ich bisher so noch nie gesehen.
9. Welches Stück würden Sie gerne einmal inszenieren?
Tankred Dorst „Merlin oder das wüste Land“
10. Wenn Sie sich für das Theater Carnivore® etwas wünschen dürften, was wäre das?
Etwas sicherere Rahmenbedingungen. Eine Grundfinanzierung, die uns absichert. Wir gehen bewusst Risiken ein. Das ist gut und gesund für eine künstlerische Unternehmung. Als Wanderbühne wollen wir zum Beispiel nicht nur in Ballungsräumen spielen. Das bedeutet aber, dass wir extreme finanzielle Risiken eingehen. Wir wünschen uns Zugänglichkeit. Das setzt bei Eintrittspreisen Obergrenzen. Gerne würden wir große Spektakel ohne Eintritt zeigen können.
Ich wünsche mir die Möglichkeit, Besetzungen von fünf Bühnenbeteiligten finanzieren zu können. Musiker mit auf Tournee nehmen zu können und Artisten. Oft müssen wir mit sehr kleinen Besetzungen auskommen. Dabei steht der Mensch bei uns im Mittelpunkt und die Wanderbühne verlangt Menschen.
Ich wünsche mir mehr Sichtbarkeit! Es ist für uns durch die vielen wechselnden Spielorte (also unsere Grundqualität) schwer, wahrgenommen zu werden. Wir würden uns gerne mehr Regelmäßigkeit und mehr Werbung leisten können.
Ich wünsche mir, dass wir auch in Zukunft weiter Theater machen dürfen! Ich wünsche mir, nicht immer auch das mögliche (finanzielle) Ende vor Augen haben zu müssen.
Das Interview wurde intern am 09.08.2025 geführt.