Wanderbühnen Geschichte
Zur Geschichte der Wanderbühne präsentieren wir stolz einen Beitrag von Esther Pramschiefer, geschrieben 2020, die unsere Arbeit theaterwissenschaftlich begleitete. Wir danken der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln für die Erlaubnis die Abbildungen dazu auf unserer Webseite zeigen zu dürfen.
Deutsche Wanderbühnen der Frühen Neuzeit und ihre Spielorte
Dieser Aufsatz entstand in Kooperation mit und im Auftrag der Heidelberger Wanderbühne Carnivore. Die Truppe unter Leitung von Florian Kaiser fährt als Tourneetheater mit ihrer eigens gefertigten Stahlbühne in den Sommermonaten durch die Heidelberger Region und spielt auf Weingütern, in Schlossruinen und an anderen Orten unter freiem Himmel. Sie bittet bei den Besitzern derer um Spielerlaubnis und ist nicht nur deshalb dem Erbe der frühneuzeitlichen Wanderbühne verpflichtet. Im Mai 2020 sollte mit „Liebe oder Leben! Eine Komödie in sechs Akten“ (Vgl. Zadow 2019) zum ersten Mal in der Geschichte des Theaters Carnivore die Adaption eines historischen Wanderbühnenstücks auf die Bühne gebracht werden. Die erfolgreiche Heidelberger Dramatikerin Ingeborg von Zadow setzte sich dafür auf humoristische, modernisierende, stets wertschätzende Art und Weise mit dem Wanderbühnenstück „Eine schoene lustig triumphirende Comoedia von eines Koeniges Sohne auss Engellandt und des Koeniges Tochter auss Schottlandt.“ (Vgl. Brauneck 1970, S. 211-268) auseinander. Das Werk, das aus der Feder eines unbekannten Autors stammt, wurde in der Erstausgabe gesammelter Wanderbühnenstücke von 1620 abgedruckt und ist seit 1970 anhand der Edition dieser Stücke von Manfred Brauneck leicht zugänglich. Die unerfreulichen Umstände des Jahres 2020 samt ihrer Auswirkungen auf die Kulturbranche, vor allem auf das Theater als Versammlungsort vieler Menschen, hat leider die Uraufführung verhindert; auch ich in meiner Funktion als theaterwissenschaftliche Begleitung dieses Projekts hoffe inständig auf eine erfolgreiche Premiere im Jahr 2021.
Wandernde Truppen, die ihre Schauspiel-, Tanz- und Gesangskünste anboten und unter Beweis stellten, reisten in der Frühen Neuzeit durch das kulturell markierte Gebiet, welches wir heute als politische, föderalistische Einheit der Bundesrepublik Deutschland kennen. Die politische Situation des Heiligen Römisches Reichs Deutscher Nation glich in den Jahren 1615-1750, die im Zentrum dieser Untersuchung stehen, jedoch einem unstrukturierten Konglomerat von unzähligen verteilten (Reichs-)Städten und Höfen. Diese Wanderschauspieler wurden und werden bis heute häufig als Englische Komödianten bezeichnet – wenngleich darin bloß die halbe Wahrheit begraben liegt, da es sich auch um deutsche und gemischte Gruppen handelte (Vgl. Seidler 2010, S. 81). Sie reisten umher in der Hoffnung, dass ihr Angebot an Darbietungen Anklang fände und jemand ihnen eine Spielerlaubnis erteilte. Die ihnen zugestandenen Spielorte befanden sich oft unter freiem Himmel, wie zum Beispiel auf Marktplätzen oder wo auch immer sie ihren Wagen platzieren konnten, der sich dann in eine Bühne verwandeln sollte.
Welche Quellen zur historischen Wanderbühne gibt es? – Drei Beispiele
Die frühesten historischen Erwähnungen solcher Wandertruppen waren zwar noch sehr vereinzelt und berichten eher von einzelnen Schaustellern denn von größeren Gruppen, reichen jedoch bis in die 1370er Jahre zurück. Systematische Belege, die häufig und vorwiegend von Truppen berichten, beginnen in den 1450er Jahren (Vgl. Clemens 2012, S. 519). Dabei handelt es sich um wertvolle Quellen, die von einer Zeit berichten, in der wandernde Theatergruppen um eine Spielerlaubnis bei den städtischen, fürstlichen und/oder klerikalen Autoritäten bitten mussten, indem sie offenlegten, was sie planten zu spielen und in der Ausführung genauestens kontrolliert wurden, ob sie denn ihre Ankündigungen auch einhielten und ihre Darbietungen nicht den geltenden Regeln von Pietät und Sittlichkeit widersprachen. Die folgenden drei Ausschnitte aus historischen Quellen dieser Zeit dienen als Beispiele für diesen Prozess und auch für die damit in Verbindung stehenden rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen.
1. Die erste Quelle stammt von einer Gruppe von Schauspielern unter der Leitung von Johannes Fridericus Virnius und Bartholomeus Freyerbott. Diese wandten sich in einem Brief an den „Edle[n], Ehrnueste[n], Achtbare[n], Hochgelahrte[n], Hoch vndt Wohlweise[n], Großgünstige[n] Herrn, Praesident Burgermeister vnndt Rath” und fragten nach der Erlaubnis, „14 Comoedias alhier zu exhibiren“. Es scheint keinen anderen Ort gegeben zu haben für die Darbietung als „E. Hochw. Behausungk, darinnen die fechtschullen gehaltten werden”. In großen Städten wie Danzig, aus dessen Stadtarchiv dieses Zeugnis stammt, waren Fechtschulen und -häuser beliebte Orte für Wanderbühnen, da sie überdacht waren und viele Leute darin Platz fanden. Die beiden Prinzipale Virnius und Freyerbott erwarteten jedoch nicht, dass es leicht würde, eine Spielerlaubnis zu erhalten. Dementsprechend betonten die beiden „Dienstgeflißene[n]”, dass ihre „Actionibus Comicis” auch im „jungst verloffenen wintter“ viel Anklang fanden. Das Bitten um eine Spielerlaubnis bei den städtischen Würdenträgern war in hohem Maße geprägt Unvorhersehbarkeit und Willkür. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, fügten die beiden hinzu: „Hierüber E. Hochw. Vndt Gunsten vns zur hoffentlicher resolution dienstgeflißendt befehlenndt“ (Alle Zitate Bolte 1895, S. 42f.). Ihre Taktik ging auf und so schrieben sie in einer angefügten Notiz vom 20. Juli 1615, dass ihnen zugestanden wurde, sieben von ursprünglich 14 angefragten Stücken zu präsentieren.
2. Das zweite historische Dokument vom Sommer 1662 zeigt, dass andere Kompanien noch wesentlich mehr Stücke in ihrem Repertoire hatten, die sie den Verwaltungen anbieten und mit denen sie für ihre Aufführungen und um die Spielerlaubnis werben konnten. Diese „90 und mehr“ Stücke wurden beschrieben als „dermaßen nützliche, erbäuliche und lehrhaffte Comoedien […] mit unserer eigenen Musik“. Mit dem Zusatz „daß Niemand geergert noch beleidiget“ sein möge, wiesen Johann Caspar Kempfer, Adam Koch und Wilhelm Haberman indirekt auf die häufige Reaktion von Bürgern gegenüber den Schauspielen hin, die die Autoritäten als Argument ins Feld führen könnten, um die Spielerlaubnis zu verweigern. Stattdessen „[möge] ein jederman erbauet und die Bürgerschafft zur einigkeit, gehorsam und tapferkeit angefrischet werden“ (Alle Zitate Bolte 1895, S. 94.).
3. Tatsächlich gibt es Belege dafür, dass einige Bürger sich durch die Aufführungen gestört oder belästigt fühlten und schriftliche Dokumente nutzten, um ihren Ärger und Unmut darüber auszudrücken. So bezeichnete zum Beispiel der Augsburger Georg Rupprecht 1724 in der dritten und letzten hier vorgestellten Quelle, in seinem „Zeugnis der Wahrheit“, eine Gruppe von Komödianten als Vagabunden, die durch ihre falsche Haltung und ihr unehrenhaftes Verhalten auffielen und das Stadtbild störten (Vgl. Rupprecht, Georg (1724): Zeugnis der Wahrheit/Gegen den sogenannten/Curieusen und wohl-erörterten/Frage: /Ob Comödien unter denen Christen geduldet […] werden können?. Augsburg: Paul Kühtzens Witwe. Reproduziert in Niessen, Carl (1940). Zit. nach Brandt 1993, S. 54).
War die historische Wanderbühne eine ausschließlich urbane Kunstform?
Diese beispielhaften Dokumente lassen die Schlussfolgerung zu, dass es sich bei Aufführungen von wandernden Schauspieltruppen um ein ausschließlich urbanes Phänomen handelte, das sich über weite Teile des Reiches erstreckte. Auch einer größeren Menge an Quellen hält diese These stand und wird bestätigt. Große Unbekannte in der Untersuchung sind jedoch die spezifischen Entstehungskontexte der Quellen sowie die Fragen von Schriftlichkeit und Archivierungspraktiken in der Frühen Neuzeit. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Aufführungen im ländlichen Raum stattgefunden haben, aber darüber entweder niemals schriftliche Dokumente existierten, sondern lediglich mündliche Ab- und Vorsprachen stattgefunden hatten, oder diese nicht archiviert wurden – sei es, weil es zu diesem Zeitpunkt im ländlichen Raum noch keine Institutionen oder systematischen Techniken der Archivierung gab oder diese spezifischen Dokumente nicht als bewahrenswert erachtet wurden. Gesichert ist hingegen, dass die wandernden Gruppen vor allem in die Städte und an die Höfe kamen, eine Spielerlaubnis erbaten und hofften, diese für einen möglichst zentralen Ort zu erhalten, um mehr Zuschauer zu erreichen und dementsprechend einen größeren Gewinn zu erzielen. Auch aus diesem Grund wählten sie häufig als Zeitpunkt für ihre Darbietungen religiöse, gesellschaftliche oder politisch-repräsentative Festlichkeiten.
Der Literaturwissenschaftler Joachim Küpper stellt in seiner 2018 veröffentlichten Monographie „The Cultural Net: Early Modern Drama as a Paradigm“ fest, dass die historischen Performances in dem Sinne als öffentlich bezeichnet werden können, dass jeder, der in der Lage dazu und gewillt war, einen kleinen, erschwinglichen Obolus zu zahlen, daran teilnehmen konnte. Diese Eigenschaften der freien Zugänglichkeit und, wie Küpper es nennt, der „presentation-as-performance” (Küpper 2018, S. 18). weisen starke Ähnlichkeiten auf zu einer weiteren Praktik, auf die sie vermutlich auch zurückzuführen sind und die im kulturellen Netz der Frühen Neuzeit von hoher Bedeutung war: die der religiösen Ehrerbietung in Form der Messe (Vgl. ebd.). Falls den Schauspielern, die Küpper darüber hinaus als „active, conscious agents of cultural transfer“ (Ebd., S. 115) definiert, keine Spielerlaubnis erteilt wurde, scheint es – den historischen Belegen entsprechend – am wahrscheinlichsten, dass sie überhaupt keine Aufführungen darboten und zu einem anderen potentiellen Spielort weiterzogen.
Welche Spielszenen werden in frühneuzeitlichen Gemälden abgebildet? – Vier Beispiele
Es stellt sich nun die Frage, ob und wenn ja wie diese historische Gegebenheit von völliger Abhängigkeit von den Entscheidungen der städtischen oder fürstlichen Repräsentanten Eingang fand in frühneuzeitliche Kunstwerke und im Besonderen in Gemälde. Bei einem genaueren Blick auf einige Abbildungen von reisenden Schauspielern deutscher und niederländischer Maler wird deutlich, dass die Wechselbeziehungen zwischen Bildender Kunst und Theater in der Frühen Neuzeit wesentlich enger waren als heutzutage, insofern Spielszenen als beliebte Motive das Interesse vieler Künstler weckten. Daher verfügen wir heute über Bildquellen, die einen sehr unmittelbaren Eindruck der Spielsituationen liefern. Für die Frage nach den Spielorten der wandernden Gruppen scheinen die verschiedenen Abbildungen von Räumlichkeit innerhalb der Gemälde von besonderer Bedeutung zu sein.
Jan Abrahamszoon Beerstraten, „Hafenstadt mit Marktbühne“; Tempera und Öl auf Leinwand 84x109cm; Amsterdam um 1660
(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der
Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln)
Als Beispiele für eine Kategorie von Gemälden, die die in den historischen Quellen beschriebene Realität von Darbietungen im urbanen Raum widerspiegeln, bieten sich zwei aus dem 17. und 18. Jahrhundert an: Dabei handelt es sich um Jan Abrahamszoon Beerstratens „Hafenstadt mit Marktbühne“, welches in Amsterdam um 1660 entstanden ist. Die im Titel benannte Bühne befindet sich in der unteren rechten Ecke des Bildes.
Norbert Grund, „Wanderbühne mit Hanswurst“; 29,5×39,8cm; Prag um 1750
(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der
Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln)
Als zweites Beispiel dient Norbert Grunds „Wanderbühne mit Hanswurst“, welches um 1750 in Prag entstand und in welchem die Bühne in der Mitte des belebten Markplatzes lokalisiert ist.
Es gibt jedoch auch Beispiele, bei denen die Hypothese, dass Wanderbühnen ein exklusiv urbanes Phänomen waren, keine Entsprechung im künstlerischen Gemälde hat. Diese bilden wohl nicht die Mehrheit der Bildquellen aus diesem Zeitraum, sind aber dennoch eine genaue Betrachtung wert und fungieren hier als zweite Kategorie. In diesen Fällen befindet sich die Stadt bzw. deren Umrisse im Hintergrund der Spielszene, dementsprechend also hinter der Bühne.
Ein Beispiel dafür ist das Gemälde „Wanderschausteller“ (1645) des Niederländers Benjamin Gerritszoon Cuyp. Darin befindet sich die Bühne ganz vorne im Bild, beansprucht den meisten Raum und ist in hellen, satten Farben gehalten. Sie ist, ohne Frage, das Zentrum des Bildes und der Szene. Die Silhouette einer Stadt im Hintergrund ist in weiter Ferne und so unspezifisch ausgestaltet, dass sie zu jeder Stadt gehören könnte.
Benjamin Gerritszoon Cuyp, „Wanderschausteller“ Öl auf Leinwand; 93,9×139,5cm; Niederlande, Mitte 17. Jhd.
(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der
Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln)
Beim zweiten Beispiel dieser Kategorie handelt es sich um Johann Christian Vollerts (oder Vollerdts) „Wandertheater am Fluss“, welches um 1750 in Sachsen entstanden ist. Hier ist die Stadt im Gegensatz zum vorherigen Beispiel wesentlich näher und die Szene ist an einem Flussufer mit einer nahegelegenen Brücke verortet. Im Sinne des frühneuzeitlichen Stadtrechtes befände sich dieser Ort außerhalb der Stadt. Der Bezug zum städtischen Raum ist jedoch klar erkennbar und wesentlich direkter als in Cuyps Gemälde.
Johann Christian Vollert: „Wandertheater am Flußufer“ Tempera auf Holz( parkettiert) 20,7 x 30,5 cm um 1750
(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der
Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln
Wieso haben sich Cuyp und Vollert also für Darstellungen von theatralen Szenen der Wanderbühne entschieden, die sich so signifikant von anderen unterscheiden? Welche Motivation verbirgt sich dahinter? Was die Entstehungszeitpunkte betrifft, besteht zwischen den Kategorien kein Unterschied, insofern beide durch ein Beispiel des 17. und eines des 18. Jahrhunderts repräsentiert werden. Handelt es sich lediglich um Fälle der vielfach zitierten künstlerischen Freiheit? Diese Erklärung greift wohl zu kurz, da man sich auch fragen sollte, welche Aspekte denn eine solche Entscheidung einschließt und welche sie ausspart. Was wird dem Betrachter des Bildes explizit gezeigt und was bleibt der Vorstellungskraft überlassen und damit im Ungefähren? Diese Frage weist erneut auf den Aspekt der Räumlichkeit der Bilder hin und ihre Beantwortung wird sowohl Einblicke geben in die Relation von Bildquellen und Theater als auch zum Nachdenken anregen über die vorherrschende Auffassung der Dichotomie von Natur- und Kultur-, von ländlichen und urbanen Räumen in der Frühen Neuzeit. Im Folgenden werden hierzu drei Denkanstöße präsentiert.
Was sind mögliche Gründe für Darstellungen der Wanderbühne außerhalb des urbanen Raums?
1. Schausteller werden imaginär aus der Stadt verbannt.
Im zuvor zitierten dritten historischen Dokument des Augsburger Georg Rupprecht wurde ersichtlich, dass damals die Konfrontation des fahrenden Volkes mit den Bürgern kulturelle und soziale Konflikte hervorrief. Dies war dadurch bedingt, dass sich ihre Lebensweisen so diametral gegenüberstanden und zumindest einige Bürger die Aufführungen als Störungen der alltäglichen Ordnung empfanden, denen kein Recht zur Existenz innerhalb der städtischen Sphäre zugesprochen wurde. Denkbar wäre, dass Cuyp und Vollert ebenfalls dieser Auffassung waren und daher in ihren Gemälden die Schauspieler samt ihrer Bühne imaginativ aus der Stadt verbannten, indem sie sie vor den Mauern der Stadt abbildeten. Dementsprechend separieren die Gemälde zwei Räume – den urbanen Raum und den des Theaters –, die in der historischen Realität aber tatsächlich während der Aufführungen in einen Raum zusammenfielen, indem der urbane Raum den des Theaters beherbergte. Indem die Maler dies so anlegten, nahmen sie des Weiteren eine Trennung von Bürgern und fahrendem Volk vor, die den historischen Belegen entsprechend auch häufig so empfunden bzw. gewünscht wurde.
Selbst wenn man diese Idee der imaginären Verbannung aus dem urbanen Raum weniger radikal verstehen möchte, resultiert dies nach wie vor darin, dass man die Aufmerksamkeit auf die separierten Sphären von religiösem Leben in der Stadt und nomadischem Leben des fahrenden Volks richten wollte. Allerdings gilt es auch zu bemerken, dass das Theater in der Frühen Neuzeit nach Joachim Küpper eine gesellschaftliche Rolle innehatte, die um einiges höher war als heutzutage in dem Sinne, dass es einer der wichtigsten Akteure einer „ubiquitous and easily accessible visual culture“ (Küpper 2018, S. 157) war.
2. Das Theater ist ein heterotopischer und weniger stark reglementierter Sehnsuchtsort.
Des Weiteren sollte in Betracht gezogen werden, dass einerseits die Erteilung oder Verwehrung der Spielerlaubnis willkürlich und wenig rational begründbar erscheinen und andererseits die städtischen Verwaltungen mit ihren Entscheidungen in Anspruch nehmen, den Willen der gemeinen Bürgerschaft, der „civitas“, zu repräsentieren. Aber was würde es denn bedeuten, wenn die Repräsentanten eben nicht die Ideen und Wünsche der Bürger vermittelt, sondern ihre Entscheidungen zur Spielerlaubnis auf Basis politischen Kalküls getroffen hätten? Ist es so abwegig, dass die Bürgerschaft die Aufführungen genossen, als willkommenes Vergnügen gutgeheißen haben und fasziniert waren von den Geschehnissen auf den Bühnen, gerade weil sie die Grenzen ihrer eigenen Lebenswelt ausreizten und überschritten? In der Tat beobachteten die Aufsichten der Städte die Aufführungen selbst im Anschluss an bereits erteilte Spielerlaubnisse aufs Genaueste und überprüften, ob sie dem zuvor Angekündigten entsprachen. Michel Foucault folgend kann die darüber ausgeübte und präsentierte Macht der Kontrollinstanzen als Pastoralmacht klassifiziert werden, insofern sie die Möglichkeiten des bürgerlichen Lebens entscheidend vorstrukturiert und bestimmt hat. Es ist dennoch vorstellbar, dass die Autoritäten mit den Geschehnissen auf der Bühne etwas großzügiger umgingen als mit der Auslegung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Begründen lassen würde sich diese These dadurch, dass bei Aufführungen fiktive Handlungen und Personen gezeigt wurden und daher das Spannungsfeld zwischen religiöser Pietät und Mise en Scène anders bewertet wurde als das zum bürgerlichen Leben. Die kontrollierenden Einheiten sahen wohl die Gefahr, dass Bürgerinnen und Bürger, die Aufführungen ohne jegliche Vorstrukturierung und Bestimmung ansehen würden, die gleichen Freiheiten für ihr eigenes Leben einfordern könnten und sich gegen die Autoritäten auflehnen würden.
Zugegebenermaßen sind diese Grenzen von Möglichem und Restriktiertem äußerst schwer zu identifizieren und umso schwerer historisch zu belegen. Auch ist die Bevölkerung der Frühen Neuzeit nicht unbedingt bekannt dafür, besonders freiheitsliebend gewesen zu sein, sondern eher stabile Strukturen und Systeme wertgeschätzt zu haben. Das Theater ist jedoch seit jeher ein Ort, an dem man sich anders und freier verhalten kann im Gegensatz zum kontrollierten täglichen Leben. Foucault führt das Theater als einen der Orte an, die per se heterotopisch sind. In seiner Theorie gibt es sechs Grundsätze, die „andere Räume“, Heterotopien, ausmachen:
1. Alle Kulturen können Heterotopien etablieren. „Es handelt sich da um eine Konstante jeder menschlichen Gruppe.“ (Foucault 1992, S. 40).
2. Die Funktion von ein und derselben Heterotopie kann von Kultur zu Kultur oder auch innerhalb seiner Geschichte variieren (Vgl. ebd., S. 41).
3. In einer Heterotopie können an einem einzigen Ort verschiedene Räume, die an sich nicht miteinander vereinbar sind, zusammenfallen. Foucault belegt diesen Grundsatz mit dem Beispiel des Theaters: „So läßt das Theater auf dem Viereck der Bühne eine ganze Reihe von einander fremden Orten aufeinander folgen“ (Ebd., S. 42).
4. Heterotopien, insofern sie laut Foucault zumeist auch Heterochronien sind bzw. als solche am besten funktionieren, fordern traditionelle Zeitmuster heraus bzw. brechen vollständig mit ihnen. Es gibt Heterotopien, die an der permanenten „Speicherung der Zeit“ interessiert sind wie Museen und Bibliotheken, aber auch solche, „die im Gegenteil an das Flüchtigste, an das Vorübergehendste, an das Prekärste der Zeit geknüpft sind“ (Ebd., S. 44). Beispielhaft führt Foucault dafür die Charakteristika von Festen bzw. deren Ort, die Festwiese, an: „So die Festwiesen, diese wundersamen leeren Plätze am Rand der Stadt, die sich ein- oder zweimal jährlich mit Baracken, Schaustellungen, heterogensten Objekten, Kämpfern, Schlangenfrauen, Wahrsagerinnen usw. bevölkern.“ (Ebd.). Der Zusammenhang zum Theater und im Besonderen zur Wanderbühne ist hier klar erkennbar.
5. Heterotopien sind nicht frei zugänglich, sondern mit festgelegten Öffnungs- und Schließritualen verbunden. Man muss zum Eintritt eine Gebühr zahlen, sich bestimmten Riten unterziehen, um Erlaubnis fragen oder man wird – im Falle des Gefängnisses – zum Aufenthalt gezwungen und muss abwarten, bis die autoritäre Macht das Verlassen der Heterotopie erlaubt (Vgl. ebd.).
6. Ihre letzte Eigenschaft ist, dass sie in einer Beziehung zu den anderen, nicht heterotopischen Räumen um sie herum stehen: „Entweder haben sie einen Illusionsraum zu schaffen, der den gesamten Realraum, alle Plazierungen [sic!], in die das menschliche Leben gesperrt ist, als noch illusorischer denunziert. […] Oder man schafft einen anderen Raum, einen anderen wirklichen Raum, der so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist wie der unsrige ungeordnet, mißraten und wirr ist.“ (Ebd., S. 45).
Eine Heterotopie ist also ein Ort, der zwangsläufig und per Definition Autoritäten in Frage stellt und sie durch seine eigene intrinsische Ordnung der Dinge ersetzt. Das Andere kann zur Norm werden und das Normierte zum Anderen. Durch das Erteilen der Spielerlaubnis haben die Autoritäten die Erlaubnis dazu gegeben, dass Andersartigkeit eine Bühne findet. Folglich entzogen sich die Wanderbühne und andere Formen des Straßentheaters der Frühen Neuzeit der Institutionalisierung von „oben“. Es etablierte sich vielmehr ein Zusammenspiel zwischen Bürgern, die den Ort der Aufführung üblicherweise bewohnten oder anders nutzten, und Schauspielern, die dem Ort der Aufführung temporär mit ihrem Schauspiel einen anderen Status verliehen. Der theatrale Raum wurde damit zum Sehnsuchtsort. Die Gemälde spiegeln dies durch idyllische und teilweise natürlich und ländlich anmutende Szenerien wider. Benjamin Gerritzoon Cuyp hat die Umgebung in seinem Gemälde recht neutral gestaltet, während hingegen Johann Christian Vollerts Gemälde, welches mit einem frühromantischen Stil in Verbindung gebracht werden könnte, eine arkadische Szenerie im barocken italienischen Stil zeigt. Dies wird besonders deutlich durch den orientalisch dekorierten Esel in der linken unteren Ecke des Bildes, dessen Exotik sofort den Blick auf sich lenkt.
Man könnte sich nun fragen, ob die Maler sich eine ähnliche Art von Freiheit im Verhalten, Leben und Sprechen im öffentlich-städtischen Raum wünschten, die Schauspielern, aber nicht ihnen, zugestanden wurde. Weisen ihre Bilder dies als geteilten Wunsch innerhalb der städtisch-bürgerlichen Gesellschaft aus? Und schließlich: Wieso haben sie sich für eine Darstellung der Spielszenen in idyllischer Umgebung so nah am natürlichen (ruralen) und kulturellen (urbanen) Leben zugleich entschieden?
3. Die abgebildeten Orte gehören zur Stadt und die Ideen von räumlichen Abgrenzungen zwischen frühneuzeitlicher Stadt, Umgebung und Land müssen revidiert werden.
Diese Fragen führen zu der dritten und letzten Idee, die hier vorgestellt werden soll – nämlich der Annahme, dass es an der Zeit ist, die gängige Idee einer frühneuzeitlichen Stadt und gleichzeitig des natürlichen versus des kulturellen Raums einer gründlichen Reevaluation zu unterziehen. Dies erscheint besonders für das Beispiel Deutschlands, welches in dieser Zeit weit entfernt vom Nationalstaat, sondern in zahlreiche kleine administrative Einheiten aufgeteilt war („Flickenteppich“), als herausforderndes Vorhaben. Welche Idee ist es also, die wir in 2020 auf die Frühe Neuzeit projizieren? Frühere Forschungsergebnisse historischer Untersuchungen sollen dazu nicht verurteilt oder jemand der Fehlerhaftigkeit überführt werden. Es steht vielmehr der Gedanke im Zentrum, sich lediglich auf das zu verlassen und als historische Realität anzunehmen, was wirklich bewiesen ist, und alles andere, was nicht mehr gewusst werden kann, Spekulation und Kreativität zu überlassen. So betont zum Beispiel Tiffany Stern in ihrer Monografie „Documents of Performance in Early Modern England“ (2009) die Bedeutung des „patch“ in historischen Untersuchungen: „The beauty lies […] in the constituent pieces that make up the whole.“ (Stern 2009, S. 256). Sie ist zwar in ihrer fachlichen Ausrichtung eher den textuellen Aspekten von Performances verpflichtet, aber nichtsdestoweniger handelt es sich auch bei einem historischen Gemälde um ein valides Dokument, einen weiteren „patch“, einen entscheidenden Teil des Ganzen.
Schon im (späten) Mittelalter waren die die Städte umgebenden Gebiete eng mit den Städten selbst durch Besitzverhältnisse und die Souveränität der Stadtbewohner verbunden. sie waren ausgerichtet auf die Stadt durch die ökonomische Versorgungssituation und rechtlich abhängig von der städtischen Autorität. Diese Beobachtung ist umso mehr zutreffend für die generell fortschrittlichere, wenn auch im Angesicht von Kriegen gebeutelten Epoche der Frühen Neuzeit (Vgl. Isenmann 2014, S. 672). Die Gebiete vor den Städten waren Orte, an denen sich Leben abspielte, und alles andere als „Un-Orte“. Woher können wir also wissen, dass diese Räume nicht auch gemeint sind, wenn historische Dokumente bestimmte Aufführungen bestimmten Städten zuschreiben? Ist es nicht denkbar, dass der Raum vor den Toren der Stadt zur direkten Umgebung derselben gezählt und unter dem Stadtnamen subsumiert wurde?
In diesem Zusammenhang würde sich auch ein interdisziplinärer Seitenblick auf Victor Turners Werk lohnen, der das Theater in sozialtheoretischer und ethnologischer Perspektive in mannigfaltigen Ausprägungen untersucht hat. Er führte in diesem Zusammenhang auch den Begriff der Liminalität und des Schwellenzustands ein, welcher sowohl für Übergangsriten als auch für Übergangsräume genutzt werden kann. In einer weiterführenden Forschungsarbeit könnte mithilfe dessen der Status des Umlandes einer frühneuzeitlichen Stadt als liminaler Übergangsraum erhellt bzw. auch das Theater der Wanderbühne als Schwellenzustand zwischen dem geordneten Alltag der bürgerlichen und gleichzeitig kulturellen Welt und dem fast anarchischen Naturraum des Umlands beschreiben werden (Vgl. Turner 2000, S. 94-127).
Fazit und Ausblick: Was wissen wir und welche Rolle spielen Archivierungspraktiken?
Ursprünglich wurde die Frage gestellt, wieso Cuyp und Vollert sich für diese spezifischen Darstellung von theatralen Spielszenen entschieden haben und welche Motivation dahintergestanden haben könnte. Fest steht, dass es sich nicht um eine unmotivierte, zufällige Entscheidung gehandelt haben kann, sondern viel eher um einen malerischen Topos, der einer historischen Realität entspringt, die es noch weiter zu erforschen gilt. Dafür wäre die Untersuchung weiterer Gemälde zur Verbesserung der Vergleichsmöglichkeiten ein guter Ausgangspunkt.
Zusammenfassend stellt sich die Frage, ob die Tatsache, dass keine historischen Dokumente verfügbar sind, die beweisen, dass Aufführungen außerhalb von Städten stattfanden, automatisch bedeuten muss, dass dies nicht der Fall gewesen sein kann; dass es nicht zu einem früheren Zeitpunkt historische Dokumente gab, die ebendies belegen, aber mittlerweile verschollen sind; dass Wanderbühnen ein ausschließlich urbanes Phänomen waren; dass die Räume vor den Stadtmauern nicht auf die eine oder andere Art und Weise Teil der Städte und deren kulturellen Räume waren. Dieser und anderen Fragestellungen im Kontext des Theaters der Frühen Neuzeit – von dem die Wanderbühne neben dem Jesuitentheater oder der schlesischen Barockoper nur ein Beispiel ist – wird meine Dissertation auf den Grund gehen.
Literaturverzeichnis
- BOLTE, Johannes (1895): Das Danziger Theater im 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg, Leipzig: Leopold Voss (= Theatergeschichtliche Forschungen 12). (online abrufbar unter: https://archive.org/details/dasdanzigertheat00boltuoft/page/n5/mode/2up; zuletzt abgerufen am 03.03.2020).
- BRANDT, George W. (Hg.) (1993): German and Dutch theatre, 1600-1848. Cambridge u. a.: Cambridge University Press (= Theatre in Europe: a documentary history).
- BRAUNECK, Manfred et al. (Hg.) (1970): Spieltexte der Wanderbühne. Band 1: Engelische Comedien und Tragedien. Berlin, Boston: de Gruyter (= Ausgaben deutscher Literatur des 15. bis 18. Jahrhunderts 19).
- CLEMENS, Lukas (2012): „Griechen, Heiden, Abenteurer. Fahrendes Volk im spätmittelalterlichen Trier“, in: Forschungen zur Geschichte der Juden und des Trierer Raums. Pro multis beneficiis. Festschrift für Friedhelm Burgard. Hg. von Sigrid Hirbodian et al. Trier: Kliomedia (= Trierer Historische Forschungen 86), S. 517-533.
- FOUCAULT, Michel (1992): „Andere Räume“, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. von Karlheinz Barck et al. 4. Aufl. Leipzig: Reclam, S. 34-46.
- ISENMANN, Eberhard (2014): Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150-1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. 2., durchges. Aufl. Köln u. a.: Böhlau.
- SEIDLER, Kareen (2010): „Performing and adapting Shakespeare on the seventeenth-century German Wanderbühne”, in: Forum Modernes Theater 25 (2), S. 81-90.
- STERN, Tiffany (2009): Documents of Performance in Early Modern England. Cambridge u. a.: Cambridge University Press.
- TURNER, Victor (2000): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a. M./New York: Campus.
- ZADOW, Ingeborg von (2019): Liebe oder Leben! Eine Komödie in sechs Akten. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren.